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Loyale Zusammenarbeit & Vorrang des EU-Rechts


EU-Kommission verklagt Vereinigtes Königreich vor dem EU-Gerichtshof wegen eines britischen Urteils, mit dem der Vollstreckung eines Schiedsspruchs zur Gewährung rechtswidriger staatlicher Beihilfen stattgegeben wurde
Die Kommission ist der Auffassung, dass das Urteil des Obersten Gerichtshofs des Vereinigten Königreichs erhebliche Auswirkungen auf die Anwendung des EU-Rechts auf Investitionsstreitigkeiten hat




Die Europäische Kommission hat beschlossen, das Vereinigte Königreich wegen eines Urteils seines Obersten Gerichtshofs vom 19. Februar 2020 vor dem Gerichtshof der Europäischen Union zu verklagen. Mit dem Urteil war der Vollstreckung eines Schiedsspruches stattgegeben worden, mit dem Rumänien zur Zahlung einer Entschädigung an Investoren verpflichtet wurde, obwohl die Kommission per Beschluss festgestellt hatte, dass eine solche Entschädigung nicht mit dem EU-Beihilferecht vereinbar ist.

Das britische Urteil
Im Dezember 2013 erließ ein Schiedsgericht, das im Rahmen des Internationalen Übereinkommens zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten (ICSID) gebildet worden war, einen Schiedsspruch, in dem festgestellt wurde, dass Rumänien gegen ein im Jahr 2003 mit Schweden geschlossenes bilaterales Investitionsabkommen verstoßen habe. Im Zuge des EU-Beitrittsprozesses hatte Rumänien 2005 ein Investitionsanreizprogramm vier Jahre vor seinem offiziellen Ende abgeschafft, um seine nationalen Rechtsvorschriften mit den EU-Beihilfevorschriften in Einklang zu bringen. Das Schiedsgericht verurteilte Rumänien dazu, die Kläger, Ioan und Viorel Micula, zwei schwedische Investoren, und ihre rumänischen Unternehmen dafür zu entschädigen, dass sie die Regelung nicht in vollem Umfang in Anspruch nehmen konnten.

Nach einer eingehenden Prüfung erließ die Kommission am 30. März 2015 jedoch einen Beschluss, in dem sie feststellte, dass die von Rumänien infolge des Schiedsspruchs zu zahlende Entschädigung gegen die EU-Beihilfevorschriften verstößt, und Rumänien aufforderte, bereits an die durch den Schiedsspruch begünstigten Parteien gezahlte Beträge zurückzufordern.

Im Jahr 2014 beantragten die durch den Schiedsspruch begünstigten Parteien die Anerkennung dieses Schiedsspruchs im Vereinigten Königreich. Dem Obersten Gerichtshof des Vereinigten Königreichs zufolge standen die damaligen EU-rechtlichen Verpflichtungen des Vereinigten Königreichs der von ihm geltend gemachten internationalen Verpflichtung zur Anerkennung und Vollstreckung des Schiedsspruchs auf Grundlage des ICSID-Übereinkommens nicht entgegen. Der Oberste Gerichtshof des Vereinigten Königreichs stützte sich bei seiner Feststellung auf Artikel 351 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), dem zufolge internationale Verpflichtungen der Mitgliedstaaten aus der Zeit vor ihrem EU-Beitritt gegenüber Drittländern auch dann bestehen bleiben, wenn die jeweiligen Verpflichtungen nicht mit den EU-rechtlichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten vereinbar sind.

Als der Oberste Gerichtshof sein Urteil verkündete, war vor den Unionsgerichten ein Verfahren über die Gültigkeit des Beschlusses der Kommission von 2015 anhängig. Am 25. Januar 2022 hob der Gerichtshof der Europäischen Union ein Urteil des Gerichts der Europäischen Union auf, mit dem der Beschluss der Kommission für nichtig erklärt worden war, und kam zu dem Schluss, dass die EU-Beihilfevorschriften in vollem Umfang auf die fragliche Maßnahme anwendbar seien und die Kommission für die beihilferechtliche Würdigung der Maßnahme zuständig sei.

Der Beschluss der Kommission
Die Kommission ist der Auffassung, dass das Vereinigte Königreich

>> gegen den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit verstoßen hat, indem es über eine bereits vor den Unionsgerichten behandelte Rechtsfrage entschieden hat, und zwar über die Auslegung und Anwendung des Artikels 351 AEUV und die Gültigkeit des diesbezüglichen Beschlusses der Kommission von 2015;

>> gegen Artikel 351 AEUV verstoßen hat, indem es diesen Artikel unter den genannten Umständen falsch ausgelegt und angewandt hat, was den Beschluss der Kommission, in dem festgestellt wurde, dass dieser Artikel nicht auf den Schiedsspruch anwendbar ist, in seiner Wirkung beeinträchtigt hat;

>> gegen Artikel 267 AEUV verstoßen hat, indem es versäumt hat, den Gerichtshof der Europäischen Union um Vorabentscheidung über die Anwendung des Artikels 351 AEUV auf die Anerkennung und Vollstreckung eines ICSID-Schiedsspruchs in der EU und die Gültigkeit des diesbezüglichen Beschlusses der Kommission zu ersuchen;

>> gegen Artikel 108 Absatz 3 AEUV verstoßen hat, indem es bei der Umsetzung des Schiedsspruchs die aufschiebende Wirkung des Beschlusses der Kommission von 2014, ein förmliches Beihilfeprüfverfahren einzuleiten, nicht beachtet hat.

Die Kommission ist der Auffassung, dass das Urteil des Obersten Gerichtshofs des Vereinigten Königreichs erhebliche Auswirkungen auf die Anwendung des EU-Rechts auf Investitionsstreitigkeiten hat, insbesondere auf
i) Schiedssprüche auf der Grundlage eines EU-internen bilateralen Investitionsschutzabkommens und
ii) die Anwendung des Vertrags über die Energiecharta innerhalb der Union. Die Kommission vertritt die Auffassung, dass die Anerkennung und Vollstreckung solcher Schiedssprüche durch die Gerichte des Vereinigten Königreichs nicht mit dem EU-Recht vereinbar ist. Zudem würde dies die Bemühungen der Kommission um eine wirksame Umsetzung von Urteilen untergraben, in denen bei EU-internen Investitionsstreitigkeiten der Vorrang des EU-Rechts gegenüber Schiedssprüchen bekräftigt wird, die mit dem EU-Recht unvereinbar und somit nicht durchsetzbar sind. In diesem Zusammenhang hat die Kommission kürzlich Vertragsverletzungsverfahren gegen diejenigen Mitgliedstaaten eingeleitet, die ihre EU-internen bilateralen Investitionsschutzabkommen nicht aufgekündigt haben.

Die Kommission hat daher beschlossen, das Vereinigte Königreich vor dem EU-Gerichtshof zu verklagen.

Nach Artikel 87 des Austrittsabkommens kann die Kommission innerhalb von vier Jahren nach Ende des Übergangszeitraums Klage beim Gerichtshof erheben, wenn sie zu der Auffassung gelangt, dass das Vereinigte Königreich vor Ende dieses Zeitraums eine Verpflichtung aus den Verträgen nicht erfüllt hat. Gemäß Artikel 89 des Austrittsabkommens sind Urteile des Gerichtshofs in solchen Verfahren in ihrer Gesamtheit für das Vereinigte Königreich und im Vereinigten Königreich rechtsverbindlich.

Hintergrund
Im Jahr 2005 hob Rumänien eine rechtswidrige Beihilferegelung als Voraussetzung für seinen Beitritt zur Europäischen Union auf. Daraufhin leiteten die schwedisch-rumänischen Investoren Ioan und Viorel Micula sowie die von ihnen kontrollierten rumänischen Unternehmen ein Schiedsverfahren auf der Grundlage eines 2003 von Rumänien und Schweden geschlossenen bilateralen Investitionsabkommens ein.

Im Jahr 2013 sprach ein Schiedsgericht (das im Rahmen des ICSID-Übereinkommens gebildet wurde) diesen Investoren Schadensersatz für die staatlichen Beihilfen zu, die sie erhalten hätten, zuzüglich der Gewinne, die ihnen entgangen sind, weil die Regelung im Jahr 2005 aufgehoben wurde und nicht, wie ursprünglich geplant, bis 2009 weiterlief.

Im Jahr 2015 erließ die Kommission einen Beschluss, in dem sie feststellte, dass die Umsetzung des Schiedsspruchs durch Rumänien eine rechtswidrige und mit dem Binnenmarkt unvereinbare staatliche Beihilfe darstellt, da sie die Zahlung einer Entschädigung für entgangene staatliche Beihilfen zur Folge hat. Insbesondere stellte die Kommission fest, dass Rumänien den Beschwerdeführern durch die Zahlung der Entschädigung einen ebenso großen Vorteil gewährt wie es bei der mit dem Binnenmarkt unvereinbaren aufgehobenen Beihilferegelung der Fall gewesen wäre. Mit ihrem Beschluss untersagte die Kommission Rumänien die Zahlung der Entschädigung auf der Grundlage des Schiedsspruchs und verpflichtete das Land, bereits gezahlte Beträge zurückzufordern. Die durch den Schiedsspruch begünstigten Parteien fochten den Beschluss vor dem Gericht der Europäischen Union an.

Im Jahr 2014 beantragten die durch den Schiedsspruch begünstigten Parteien die Anerkennung des Schiedsspruchs im Vereinigten Königreich. Im Jahr 2017 wies der High Court of England and Wales die Anfechtungsklage Rumäniens gegen die Anerkennung des Schiedsspruchs zurück, setzte jedoch seine Vollstreckung bis zum Abschluss des Verfahrens vor den Unionsgerichten aus. Im Jahr 2018 wies das Berufungsgericht (Court of Appeal)* einen Rechtsbehelf gegen die Aussetzung der Vollstreckung zurück, den die durch den Schiedsspruch begünstigten Parteien eingelegt hatten. Die Kommission trat diesem Verfahren als Streithelferin bei.

Im Jahr 2019 erklärte das Gericht der Europäischen Union den Beschluss der Kommission von 2015 für nichtig.

Im Jahr 2020 gab der Oberste Gerichtshof des Vereinigten Königreichs einem Anschlussrechtsmittel statt, das die durch den Schiedsspruch begünstigten Parteien gegen das Urteil des Berufungsgerichts eingelegt hatten, und hob die Aussetzung der Vollstreckung des Schiedsspruchs auf. Die Kommission trat diesem Verfahren als Streithelferin bei.

Im Jahr 2020 übermittelte die Kommission dem Vereinigten Königreich ein Aufforderungsschreiben und im Jahr 2021 eine mit Gründen versehene Stellungnahme, in der sie die Verstöße gegen das EU-Recht darlegte, die sich ihrer Ansicht nach aus dem Urteil des Obersten Gerichtshofs des Vereinigten Königreichs ergaben.

Im Jahr 2022 gab der Gerichtshof der Europäischen Union einem Rechtsmittel der Kommission gegen das Urteil des Gerichts der Europäischen Union von 2019 statt und kam zu dem Schluss, dass die EU-Beihilfevorschriften in vollem Umfang auf die fragliche Maßnahme anwendbar seien und die Kommission für die beihilferechtliche Würdigung dieser Maßnahme zuständig sei. Der Gerichtshof setzte somit den Beschluss der Kommission von 2015 wieder in Kraft und verwies die Sache zur Prüfung der übrigen Klagegründe an das Gericht zurück.
(EU-Kommission: ra)

eingetragen: 16.03.22
Newsletterlauf: 06.05.22


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