Grundsatz "Wer klaut, der fliegt"


Bagatellkündigungen: Experten uneinig über Handlungsbedarf
Handelsverband verteidigte Verdachtskündigungen: Wäre eine Kündigung bei Bagatelldelikten ohne vorherige Abmahnung nicht möglich, wäre das "ein Dammbruch"


(07.07.10) - Bei der Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zum Thema Bagatell-Kündigungen bewerteten die Sachverständigen die derzeitige Rechtsprechung und die Gesetzentwürfe der Fraktionen der SPD und Die Linke (17/648, 17/649) sowie den Antrag der Grünen-Fraktion (17/1986) sehr unterschiedlich.

Der Einzelsachverständige Prof. Gregor Thüsing sah die "Abwägung im Einzelfall" bei der Rechtsprechung "gut aufgehoben", etwa bei der Frage, ob einer Kündigung eine Abmahnung vorausgehen hätte müssen oder nicht. Für "gesetzgeberische Ergänzungen" sehe er keinen Bedarf.

Auch Joachim Vetter vom Bund der Richterinnen und Richter der Arbeitsgerichtsbarkeit beschrieb, dass die "Interessenabwägung im Einzelfall" das sei, was die Gerichte derzeit tun würden. Häufig würden Kündigungen für unwirksam erklärt, in den Medien würden jedoch häufig die Fälle genannt, wo die Kündigung bestätigt worden sei.

"Wir sehen die Gesetzgebung als ausreichend an", sagte auch Heribert Jöris vom Handelsverband Deutschland.

Dem widersprach Martina Perreng vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB). Sie habe nicht die Hoffnung, dass die Gerichte immer angemessen entscheiden würden und wünsche sich eine klarere Gesetzgebung. Bisher gelte meist der Grundsatz "Wer klaut, der fliegt".

Der Einzelsachverständige Achim Klueß berichtete von 150 veröffentlichten Fällen von Kündigungen bei Bagatelldelikten. Fast immer sei eine Kündigung ohne vorangehende Abmahnung wirksam gewesen, "egal, wie lange jemand dabei war" und unabhängig davon, wie geringfügig das entwendete Wirtschaftsgut gewesen sei. Oft gebe es Kündigungen wegen Bagatelldelikten bei Mitarbeitern, die relativ alt und relativ lange dabei seien. Er habe den Verdacht, die Arbeitgeber wollten die Mitarbeiter loswerden.

Ulrich Boudon von der Bundesrechtsanwaltskammer berichtete, dass sogenannte Verdachtskündigungen ein "schwieriges Feld seien". Als Beispiel nannte er eine Messerstecherei im Betrieb, bei der es zwei Verdächtige gebe. Wenn der Arbeitgeber alles getan habe, um den Fall aufzuklären, dann müsse er zur Not auch beide kündigen dürfen.

Auch Heribert Jöris vom Handelsverband verteidigte Verdachtskündigungen. Gerade im Einzelhandel sei Vertrauen "sehr wichtig", "jeder Euro geht durch die Hand der Mitarbeiter". Bei Zweifeln müsse der Arbeitgeber kündigen dürfen. Wäre eine Kündigung bei Bagatelldelikten ohne vorherige Abmahnung nicht möglich, wäre das "ein Dammbruch", sagte Jöris. "Einmal klauen darf ich, käme bei den Menschen an", sagte er. Er berichtete von Fällen, in denen Mitarbeiter Überraschungseier an Kinder verschenkten, sich bei Hunger Chips aus dem Regal genommen hätten und Blumenschmuck mit nach Hause genommen hätten.

Diese Fälle bestärkten sie darin, dass nicht ohne Abmahnung fristlos gekündigt würden dürfe, hielt Perreng vom DGB dagegen.

Der Einzelsachverständige Benedikt Hopmann wies darauf hin, dass Verdachtskündigungen immer die Möglichkeit enthielten, "dass derjenige es nicht war". Die Beweislast liege faktisch beim Mitarbeiter, der nur noch eine Chance habe, wenn er nachweisen könnte, dass er es nicht gewesen sei.

Prof. Klaus Dörre berichtete von wachsendem Druck in einer zunehmend unsicheren und von Misstrauen geprägten Arbeitswelt. Echte Vertrauensverhältnisse gebe es immer seltener zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. "Wenn sie bei Bagatelldelikten gleich mit rechtlichen Aktionen reagieren, kann von einem Vertrauensverhältnis schon keine Rede mehr sein", sagte er. (Deutscher Bundestag: ra)


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