ESMA kritisiert deutsche Behörden


ESMA sieht erhebliche Lücken im System der deutschen Finanzaufsicht
Gerade auf den Umgang mit einem handfesten Betrugsfall sei das Aufsichtssystem nicht vorbereitet gewesen



Die Europäische Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde ESMA sieht erhebliche Lücken im System der deutschen Finanzaufsicht. Dazu äußerte sich Evert van Walsum, Leiter der Abteilung Investoren und Emittenten bei der EU-Behörde, während der Sitzung des 3. Untersuchungsausschusses ("Wirecard") unter der Leitung von Kay Gottschalk (AfD). Van Walsum war per Video aus der Deutschen Botschaft in Paris zugeschaltet.

Die ESMA hat nach Bekanntwerden des groß angelegten Betrugs bei dem deutschen Zahlungsdienstleister Wirecard im vergangenen Jahr eine fachliche Bewertung der Arbeit der zuständigen Aufsichtsbehörden durchgeführt. Die Untersuchung galt der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (Bafin) und der Deutschen Prüfstelle für Rechnungslegung (DPR).

"Wir haben Defizite in den Abläufen sowie Leistungsmängel und rechtliche Hindernisse für ein wirksames Funktionieren identifiziert", sagte van Walsum. Die EU-Vorgaben für eine schlagkräftige Aufsicht von Finanzfirmen seien ein Deutschland nur unzureichend umgesetzt.

Gerade auf den Umgang mit einem handfesten Betrugsfall sei das Aufsichtssystem nicht vorbereitet gewesen. Unter den deutschen Institutionen habe nur die Staatsanwaltschaft die Mittel gehabt, um einem Verdachtsfall wirklich nachspüren - aber die Hürden für deren Einbeziehung seien zu hoch. So sei ein Teufelskreis entstanden. Weil die Bafin im Fall Wirecard nicht kriminalistisch ermittelt hat, konnte sie auch keine Belege für Straftaten zutage fördern. Doch ohne die Verdachtsmomente zu erhärten, konnte sie die Staatsanwaltschaft nicht einschalten, führte van Walsum aus.

Stattdessen hat die Bafin die DPR um eine weitere Prüfung gebeten. "Diese wiederum hatte bei weitem nicht die Ressourcen, um den Betrug zu durchschauen." Sie konnte nur mit Dokumenten arbeiten, die Wirecard freiwillig einreichte, und in denen fanden sich die nötigen Anhaltspunkte für illegale Machenschaften natürlich nicht. Die Bafin hat die Staatsanwaltschaft erst aktiviert, als Wirecard zugeben musste, dass 1,9 Milliarden Euro des Firmenvermögens nie existierten. Dieser Schritt erfolgte offensichtlich zu spät, so van Walsum.

Besonders schwerwiegend ist der Vorwurf der ESMA, dass die zwei zuständigen Aufsichtsbehörden frühere Hinweise auf mangelnde Abläufe ignoriert haben sollen. Schon 2017 hat eine EU-Fachbewertung der Arbeit von Bafin und DPR deutliche Hinweise auf Probleme geliefert. Diese wurden jedoch nicht abgestellt. Der Grund: Die Defizite gehen auf den rechtlichen Rahmen zurück - und der konnte nur durch Gesetzesänderung verbessert werden, nicht durch einfache Anpassungen in den Behörden.

Der Ausschuss beschäftigte sich in diesen Tagen auch verstärkt mit dem Phänomen, dass Beamte auf niedrigen Ebenen durchaus kompetent begründete Warnungen im Zusammenhang mit Wirecard aussprachen, diese jedoch auf dem Dienstweg versandeten. Auch der Ökonom Nikolaus Dötz, ein Referent im Zentralbereich Volkswirtschaft der Deutschen Bundesbank, sagte vor dem Ausschuss aus. Dötz war nicht direkt mit Bankenaufsicht befasst, aber im Januar 2019 war dennoch seine Expertise im Zusammenhang mit Wirecard gefragt: Er sollte den Sinn eines geplanten Leerverkaufsverbots bewerten. Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (Bafin) plante, es zu verhängen, um Wirecard vor vermeintlichen Angriffen böswilliger Spekulanten zu schützen. Ein Schritt in dem Prozedere ist die Beurteilung des Vorhabens durch die Bundesbank. Hier war nun Dötz als Experte für das Marktgeschehen gefragt.

Dötz sprach sich in einem Vermerk gegen das Leerverkaufsverbot aus. "Im Ergebnis kann keine Marktstörung festgestellt werden", schrieb der Experte - eine Marktstörung ist aber Voraussetzung für ein Leeverkaufsverbot. Im Rückblick war das die richtige Entscheidung. Nach Ansicht des Ausschusses - und inzwischen auch der Bafin selbst - hat das Leeverkaufsverbot das völlig falsche Signal gesetzt. Es hat Wirecard als Opfer dastehen lassen, nicht als Täter.

Diese einzelne Maßnahme hat die Aufklärung des Betrugs vermutlich mehr in die Länge gezogen als alle anderen Fehlentscheidungen jener Tage. Dötz hatte jedoch von Anfang an eine Reihe von Problemen mit dem Leerverkaufsverbot. Er hielt es für unangemessen, weil er keine Anzeichen dafür finden konnte, dass die Märkte von Leerverkäufen verzerrt seien. Er hielt es für wenig tauglich, weil es in solchen Situationen kaum etwas bringe. Andere Fachleute der Bundesbank schlossen sich der Einschätzung an. Die Einschätzungen sind aktenkundig und liegen dem Ausschuss vor.

Doch: Sie wurden seinerzeit ignoriert. Die Bafin erhielt die Analysen der Bundesbank am 15. Februar 2019 zwar übermittelt. Sie sprach das Leerverkaufsverbot trotzdem aus - weil es von der Leitung der Behörde so gewünscht war. "Sie wollte das Leerverkaufsverbot offenbar unter allen Umständen und hat es regelrecht durchgeboxt - und sich damit auf die Seite von Wirecard gestellt", sagte der Abgeordnete Danyal Bayaz (Bündnis 90/Die Grünen).

Die Vermerke über den Unsinn des Leeverkaufsverbots gingen innerhalb der Bundesbank auch auf den Dienstweg - fanden aber nur auf Fachebene Beachtung. Die höhere Leitungsebene wurde im Fall Wirecard nicht tätig. Diesem Punkt schenkte der Ausschuss viel Beachtung. Bei Vernehmung des Leiters der Abteilung Marktbeobachtung der Bundesbank, Martin Wieland, stellte sich ebenfalls heraus, dass seine Mahnungen im Fall Wirecard nicht wahrgenommen wurden. "Da hätten doch, auch bei der Bundesbank-Führung, Alarmzeichen angehen müssen!", sagte der Abgeordnete Hans Michelbach (CSU).

Es scheint gleichwohl für die Beamten der Bundesbank kein Ausnahmeereignis zu sein, viel Arbeit und Expertise in eine Einschätzung zu stecken, nach der die verantwortlichen Stellen später nicht handeln. "Es kommt öfter vor, dass die Bundesbank sich andere Ergebnisse ihrer Empfehlungen wünschen würde", sagte Dötz.

Die Abgeordnete Cansel Kiziltepe (SPD) beklagte die kurzsichtige und engstirnige Vorgehensweise der verschiedenen Aufsichtsbehörden: "Jeder macht nur das, wofür er auf dem Papier zuständig ist." Jede Behörde, jede Abteilung habe sich auf den Bereich beschränkt, für den sie zuständig sei. Sobald die unmittelbare Pflicht abgehakt war, habe der Fall als erledigt gegolten, echter Wille zur Aufklärung sei nicht zu sehen. "Proaktivität wäre an dieser Stelle nicht schlecht gewesen", sagte sie an die Adresse der Bundesbank-Vertreter.

Auch der EU-Beamte van Walsum deutete im Hinblick auf das Verhalten der Bafin an, dass diese nicht gründlich genug vorgegangen sei und es an Spürsinn habe vermissen lassen. Wenn diese ihre Möglichkeiten ausgereizt hätte und die Hinweise aus den Medien und von Finanzmarktakteuren ernster genommen hätte, dann wäre eben doch eine eindeutigere Reaktion zu einem früheren Zeitpunkt möglich gewesen. (Deutscher Bundestag: ra)

eingetragen: 09.03.21
Newsletterlauf: 20.04.21


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